G. Weber (Hrsg.): Rebellion unter Laubenbögen

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Titel
Rebellion unter Laubenbögen. Die Berner 1968er Bewegung


Herausgeber
Weber, Georg
Erschienen
Basel 2017: Zytglogge Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
von
Renate Schär

Als 68er-Bewegung bezeichnet die Geschichtswissenschaft eine Protestwelle der 1960erbis 1970er-Jahre, die sich gegen vorherrschende soziale, kulturelle und politische Normen richtete. Die Deutung und Wirkungsgeschichte der 68er-Bewegung ist in der historischen Forschung auch fünfzig Jahre danach immer noch umstritten. Das Fünfzig-Jahr-Jubiläum von 1968 löste einen weiteren Historisierungsschub in Form von Publikationen, Zeitungsartikeln oder Ausstellungen aus. Ueli Mäder beispielsweise untersucht in seinem Buch 68 – was bleibt? die Wirkungsgeschichte von 1968 in der Schweiz, und in der von Samuel Geiser und anderen herausgegebenen Publikation Revolte, Rausch und Razzien steht die Biografie von Berner 68erinnen und 68ern im Zentrum. Der von Georg Weber herausgegebene Band Rebellion unter Laubenbögen: Die Berner 1968er Bewegung reiht sich in die Erinnerungsgeschichte von 1968 ein. Das Buch gliedert sich in eine Einleitung, sieben in sich geschlossene thematische Kapitel und ein Nachwort. Die Einleitung verfasste der Publizist und Philosoph Georg Kohler, der 1968 als «Titel einer kulturellen, nicht einer politischen Revolution» (S. 11) begreift, die den Weg zu einer liberaleren Gesellschaft wies.

Die Publikation legt den Fokus auf die alternative Berner Kulturszene mit einem zeitlichen Schwerpunkt in den 1960er-Jahren. Weber widmet sich neben der Berner Literaten- und Musikszene dem Diskussionskeller Junkere 37, einem Podium für junge Schriftsteller und einem Forum, in dem Teilnehmende kulturelle Gegenentwürfe diskutierten und vorherrschende Lebensstile hinterfragten. Ein weiteres Kapitel behandelt die von der Architektengemeinschaft Atelier 5 in moderner Bauweise realisierte Siedlung Halen nördlich von Bern, die für eine neue Art des Zusammenlebens steht. Fred Zaugg beschreibt in seinem Beitrag die alternative Theaterszene in Bern und im Speziellen das Galerietheater «Die Rampe», das avantgardistische Stücke, literarisches Kabarett oder Chansonabende programmierte. François Grundbacher wiederum verfasste einen Artikel zur Kunsthalle Bern, in der Direktor Harald Szeemann Ende der 1960er-Jahre in verschiedenen Ausstellungen die Avantgarde der internationalen Kunstszene versammelte. Symbolhaft dafür steht die 1968 von Christo verpackte Kunsthalle. Weber wendet sich ausserdem in einem Kapitel einer politischen Bewegung zu: der Studentengruppierung Forum politicum, die ihr universitätspolitisches Engagement mit grundsätzlicher gesellschaftlicher Kritik verband und diese mit Aktionen öffentlich machte.

Der Buchtitel weckt Erwartungen, die der Buchinhalt nicht ganz zu erfüllen vermag. Was haben zum Beispiel die bereits in den 1950er-Jahren konzipierte Siedlung Halen und das 1958 gegründete Galerietheater «Die Rampe» mit 1968 zu tun? Der Bezug zur 68er-Bewegung kommt hier zu kurz. Die Autoren betonen den Ausbruch aus dem Gewohnten, der exemplarisch in neuen Ausdrucksformen in Literatur, Theater und Architektur, in der ebenfalls in der Kunsthalle gezeigten Konzeptkunst oder in der Verwendung von Mundart in der Rockmusik ersichtlich wird. Die Autoren verstehen also den Bruch mit Konventionen in der Nachkriegsgesellschaft als Bindeglied und zentrales Element der 68er-Bewegung. Zu vage bleibt aber die Bedeutung und Wirkung dieser Konventionsbrüche, die Beiträge bieten analytisch wenig. So wird das Ausbleiben einer tief greifenden gesellschaftlichen Umgestaltung, wie vom Forum politicum gefordert, knapp damit erklärt, dass es in Bern einen «lokale[n] Volkscharakter» gibt, «der auf Einvernehmlichkeit achtet» (S. 231). Jedenfalls wäre eine genauere Definition von 1968 hilfreich gewesen, um die vom Herausgeber getroffene thematische Auswahl zu verstehen und diese in der 68er-Bewegung von Bern – die Publikation zeigt nur eine Facette davon – verorten zu können. Augenfällig ist ferner, dass Frauen mit sehr wenigen Ausnahmen in den Darstellungen sowie unter den Zeitzeugen fehlen. Die Berner Kulturszene mag von männlichen Akteuren dominiert gewesen sein, jedoch ist 1968 auch die Zeit, in der Geschlechterrollen verstärkt hinterfragt wurden. Eine Reflexion über die Gründe der Absenz von Frauen in diesem Band wäre lohnenswert gewesen.

Die Übersichtsdarstellungen sind auf einer beschreibenden Ebene angesiedelt und mit unterhaltsamen Anekdoten angereichert. Zusätzlich beinhaltet der Band zahlreiche Fotografien von Protagonisten, Institutionen oder Veranstaltungen. Die Autoren basieren ihre Darstellungen auf bestehende Publikationen, Zeitungsartikel und Quellenmaterial wie das im Schweizerischen Literaturarchiv aufbewahrte Nonkonformismus-Archiv oder das Privatarchiv von Sergius Golowin, Autor und Mitgründer der Junkere 37. Auszüge aus Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ergänzen die Beiträge. Fussnoten werden eher punktuell eingesetzt, folglich bleibt bei einigen Textpassagen die Herkunft der Quelle unklar. Das Buch stellt allerdings keinen wissenschaftlichen Anspruch. In die in einem essayistischen Stil verfassten Beiträge sind die subjektive Perspektive oder sogar eigene Erlebnisse der Autoren eingeflossen. Die Autoren, um 1950 oder früher geboren und in Bern aufgewachsen, sind gleichzeitig auch Zeitzeugen. Zaugg beschreibt zu Anfang seines Beitrags seine Vorgehensweise, die in ähnlicher Art für die ganze Publikation gelten dürfte: «Was hier festgehalten wird, sind Erinnerungen und Andenken, es ist Gesammeltes und Dokumentiertes, Nahes und Weithergeholtes. Eine kleine Auswahl von allem, womöglich keine gerechte, mit Bestimmtheit keine ausgewogene» (S. 97). Den Autoren gelingt es so bis zu einem gewissen Grad, den Zeitgeist jener Epoche einzufangen. Lebhaft ist zum Beispiel die Erinnerung von Weber, wie er im Mai 1968 als Gymnasiast per Autostopp mit Gleichgesinnten ans Jimi-Hendrix-Konzert nach Zürich reist.

Insgesamt gelingt es der reich illustrierten und anekdotischen Publikation anhand eines Streifzugs durch die alternative Kulturszene, den Zeitgeist und die Aufbruchsstimmung der Nachkriegsjahre in Bern zu beschreiben. Obschon die analytische Schärfe fehlt, leistet der Band mit seiner Chronik ausgewählter Berner Kulturinstitutionen und -szenen einen Beitrag zur Berner Lokalgeschichte.

Zitierweise:
Renate Schär: Rezension zu: Weber, Georg (Hrsg.): Rebellion unter Laubenbögen. Die Berner 1968er Bewegung. Basel: Zytglogge 2017. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2019, S. 76-78.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2019, S. 76-78.

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